Teilnachlass Joseph Joachim | Projektbericht

Interessante Aspekte der Briefe von Joseph Joachim

Die Lektüre der Briefe erlaubt grundlegende Einblicke in die Biografie einer zentralen Künstlerpersönlichkeit des 19. Jahrhunderts mit allen Aspekten der Selbstreflexion und der Selbstinszenierung. Als zentrale Kommunikationsform des 19. Jahrhunderts dient der Brief auch bei Joachim in erster Linie dazu, die räumliche Distanz zu seinem Bruder zu überbrücken. Als biografische Selbstzeugnisse spiegeln die Briefe Aspekte der ich-bezogenen Selbstvergewisserung und ästhetischen Selbstreflexion. Nirgends sonst jedenfalls dokumentiert sich die Persönlichkeit und der Charakter von Joseph Joachim so kontinuierlich wie in diesen 900 Schreiben, die den Zeitraum von 1844 bis 1907 umspannen, also Joachims Entwicklung vom 13. Lebensjahr bis zu seinem Tod.

Naheliegende Themen sind zunächst immer wieder der Familienalltag mit den Besuchen der Kinder, in dem sich der mondäne Hausalltag widerspiegelt. Gelegentlich finden sich dabei auch Seitenblicke auf die gesellschaftlichen Probleme einer jüdischen Familie. Die ambivalente Haltung zu der eigenen Herkunft spiegelt sich etwa in einem undatierten Brief des 1855 lutherisch getauften Juden, in dem Joachim von einem Auftritt in der Synagoge in Berlin berichtet: »Wie du siehst, ist das Concert in der Synagoge, einem herrlichen gegen 3000 Menschen fassenden maurischen Saal, gut ausgefallen. Ich hatte es, ungeachtet mancher abredenden Stimmen (auch der Amaliens) für meine Pflicht gehalten dem Vorstand der israelitischen Gemeinde meine Kraft zur Verfügung zu stellen, aus derselben Gesinnung, die wie ich jetzt sehe auch unsern Kronprinzen bewog das Concert zu besuchen. Du weißt, daß ich sonst schon öfter mancherlei gegen unsere Stammesgenossen einzuwenden hatte; aber die maaßlosen Angriffe gegen sie von Seiten mancher Pastoren, und die Erregung des Neides der Massen gegen ihre pekuniären Erfolge, bewogen mich meine Zugehörigkeit zum Stamme jetzt nicht zu verläugnen, und als mich der Vorstand der Israelitengemeinde zu einem guten Werk aufforderte, dabei zu sein« (Joa : B1 : 402).

Auch in anderen Passagen kommt Joachim auf antisemitische Anfeindungen zu sprechen, etwa wenn er Heinrich auf beigelegte Zeitungsausschnitte hinweist: »Hier sind die Juden = Geschichten, von denen du in den Zeitungen gewiß genug hörst, keine angenehme Zugabe. Niemand kann die Fehler unser Stammesgenossen besser erkennen, als unser einer; aber bei der Art der Behandlung ihrer Schwächen rührt sich doch so etwas wie Zusammengehörigkeit im Leid« (Joa : B1 : 347).

Breiten Raum innerhalb der Korrespondenz an den Bruder nimmt die Organisation des Konzertlebens ein, von den Verhandlungen mit Konzertveranstaltern und Agenten über die Programmplanung bis hin zu den Tournee-Verläufen und den Konzertproben. Der briefliche Austausch mit Heinrich ist hier immer wieder aufschlussreich, etwa hinsichtlich seiner Kritik an unseriösen Konzertveranstaltern: »[…] aber weil’s mir eben widerstrebt mich mit Jemand zu Kunstzwecken zu verbinden der mir als der krasseste Marktschreier bekannt ist. Ich begreife nicht wie man mir so was zumuthen kann; würdest du dich als Kaufmann mit einem notorischen Schwindler einlassen, der schon die elendsten Geschichten auf der Börse gemacht hat, als sein Partner in einem halbschmutzigen Unternehmen, bloß weil es profitabel ist?« (Joa : B1 : 56). Auch über den Markt für Geigen ergeben sich eindrucksvolle Einsichten, wenn es etwa um die Instrumentenwahl und Finanzierung von Geigenkäufen geht, von denen Joachim seinem Bruder berichtet: »Das Spielen hat mir auf der neuen Stradivarius großes Vergnügen gemacht, obwohl ich sie erst 14 Tage in Händen habe und der Steg neu ist. Ich fühle wie der Ton unter den Fingern hervorquillt, so elastisch und dabei glanzvoll, eine Eigenschaft die Meyer’s Stradi nicht in gleichem Maß besitzt« (Joa : B1 : 497).

Wertvolle Informationen finden sich oftmals auch zum Presseecho, das zum Teil durch Beilagen dokumentiert wird. Bewertungen von Komponisten und einzelnen Werken spielen in den Briefen ebenfalls eine Rolle. Gegenstand der Beurteilung sind u. a. Persönlichkeiten wie Robert Schumann, Felix Mendelssohn, Franz Liszt, Johannes Brahms, Richard Wagner oder Giuseppe Verdi. Zwei Schreiben nur seien herausgegriffen, zwei aufeinanderfolgende Briefe vom Herbst 1853, in denen so unterschiedliche Namen wie Liszt, Wagner, Schumann und Brahms auftauchen. Im ersten Schreiben berichtet Joachim seinem Bruder vom Karlsruher Musikfest: »Sehr schön hat Bülow gespielt; wie denn überhaupt viel mir Sympathisches geboten worden ist, namentlich Wagner’s Lohengrin-Musik. Wagner selbst kennen zu lernen war für mich aber das eigentliche Fest, und ich danke neuerdings dem prächtigen Liszt die intime Bekanntschaft eines der bedeutendsten und liebenswürdigsten Menschen die mir vorgekommen sind. So begeistert, so wahr, so übereinstimmend innerlich und äußerlich habe ich wenige Menschen gesehen.« Im nächsten Brief berichtet Joachim dann seinem Bruder ausführlich von der Aufführung seiner eigenen Hamlet-Ouvertüre, die leider unter den Händen Schumanns schlecht verlaufen sei: »Schumann ist ein ausgezeichneter, dichterischer Mann, und großer Musiker, aber leider kein ebenso guter Dirigent. [...] Mein einziger Umgang ist jetzt hier ein junger Hamburger, Namens Brahms, ein 20jähriges gewaltiges Talent in Komposition und Klavierspiel, das der Dunkelheit zu entreißen, mir das Glück ward. Nächstens einmal mehr darüber« (Joa : B1 : 41).

Der ältere Bruder Heinrich stellte für den jüngeren eine wichtige Autorität dar, ihm gegenüber glaubte Joseph Joachim immer wieder über seine Entscheidungen, Leistungen und Einkünfte Rechenschaft ablegen zu müssen. Es geht in den Briefen also auch gerade darum, ein Bild der eigenen Persönlichkeit gegenüber dem Bruder zu entwerfen. Die Darstellung der eigenen Leistungen zieht sich so wie ein roter Faden durch die Berichterstattung nach London. Von großer Wichtigkeit ist für Joachim seine gesellschaftliche Reputation; so wird der Bruder immer wieder über seinen Umgang mit dem Hochadel informiert: »Gestern wurde ich durch den Besuch des Kammerherrn der Kaiserin überrascht, der mir mittheilte, daß I. M. mich zu tisch in Potsdam laden laße, und fragte ob ich ihren Wunsch erfüllen wolle bei dieser Gelegenheit nachher zu musiciren« (Joa : B1 : 612). Die Reputation, die mit dem Amt verbunden ist, wird von Joachim ebenfalls geschätzt, habe freilich auch große Schattenseiten. Sie verlangt Einschränkungen durch die räumliche Präsenz, den zeitlichen Einsatz für das Unterrichten und administrative Verpflichtungen. Immer wieder beklagt sich Joachim so über die Einschränkungen durch seine Lehrtätigkeit: »Wir hatten in der Schule eine herrliche Aufführung […]. Solche Abende versöhnen mich auf Zeiten mit meiner Stellung, die mir meine Freiheit raubt, und in der ich bei meinem Alter schon ausharren muß« (Joa : B1 : 612).

Ein besonders brisantes Thema wird die Zerrüttung der Eheleute Joachim. Immer wieder erfährt der Leser aus der Perspektive Joachims Details zum langwierigen Ehescheidungsprozess und dem anschließenden Streit um das Sorgerecht und die Unterhaltszahlungen für die Töchter: »Amalie hat unter dem Vorwand, daß ich ihr die Mädchen vorenthalte, einen Befehl ausgewirkt, daß die Mädchen in den Weihnachtsferien bei ihr wohnen, und mir geschrieben, daß sie ihnen nur dann erlauben wolle mich zu besuchen, wenn ich schriftlich das als recht anerkenne. Darauf habe ich ihr vom Vormundschaftsgericht den Befehl zustellen lassen, daß sie mich mindestens einen Tag um den andern besuchen müssen. Die armen Kinder! […] Das ist alles furchtbar traurig! Man lebt aus Pflichtgefühl weiter« (Joa : B1 : 451). Der rechtliche Rahmen der Scheidung, die 1884 rechtsgültig wird und bis zu Joachims Lebensende ein Thema bleibt, bietet auch für Fragen aus der Genderperspektive interessante Ansatzpunkte.

Markante Themen ergeben sich zudem aus Todesfällen, Krankheiten und die sich entwickelnden medizinischen Behandlungsmethoden, wenn Joachim Heinrich von seinen Arztbesuchen unterrichtet: »Die verdammten, ekelhaften Hämorhoiden! Man hatte mir eine Pfeffertinktur (sic) eingegeben, was das Uebel verschlimmerte statt zu bessern, wie natürlich; ich merkt es erst als ich das Gesöff hinunter hatte. Später bekam ich einen bessern Arzt, der mir eine Wasserkur=Anstalt dringend empfielt« (Joa : B1 : 88).

Unerwartete Einblicke ergeben sich schließlich auch in die Militärgeschichte, da Joachims Sohn Herman eine Offizierskarriere eingeschlagen hatte. Als Beilage hat sich eine Aufstellung der Kosten für die militärische Ausbildung des Sohnes erhalten. Aufgrund des Ehrenkodex der Zeit um seine Reputation fürchtend, geriet Herman in ein Duell, dass zu seinem Ausschluss aus der Armee führte: Eine Affäre, die Joseph Joachim nötigte, persönlich beim Kaiser vorstellig zu werden. Erst später wagt er, seinem Bruder davon zu berichten: »Er sollte den ersten Schuß haben, lehnte es aber ab, weil es ihm wiederstrebt einen Zweikampf mit ungleichen Chancen zum Austrag zu bringen! Das Duell war auf 15 Schritt, mit 3 maligem Schußwechsel; sie schossen gleichzeitig auf Commando, und sein Gegner fiel, dessen Kugel hart an Herman’s Brust vorbeiging. Mir läuft’s noch kalt über den Rücken, wenn ich an die Situation denke« (Joa : B1 : 692).

Das Briefkonvolut ist in vielerlei Hinsicht anschlussfähig an aktuelle Forschungsfragen: Alltägliches aus der Familie einer zentralen Musikerpersönlichkeit des 19. Jahrhunderts und biografische Details über ein ganzes Leben gewinnen eine ungewöhnliche Tiefenschärfe. Die Entwicklung des internationalen Konzertbetriebs während nahezu des gesamten 19. Jahrhunderts wird aus der persönlichen Perspektive einer zentralen Künstlerpersönlichkeit vermittelt. Auch die Akademisierung der Musikerausbildung und die damit verbundenen Ämter gewinnen durch die Briefe ein schärferes Profil. Unterschiedliche musiksoziologische Aspekte kommen dabei in den Blick, wie die Entdeckung und Förderung junger Talente, Konzertverhandlungen oder die Bewertung neuer Kompositionen.

Ein besonderer Service des Projektes ist es, dass die etwa 900 Briefe von Joachim an seinen Bruder und seine Schwägerin neben den digitalen Images auch in Übertragungen vorliegen. Das macht die Schreiben leichter lesbar und digital durchsuchbar. Das Projekt verfolgt dabei nicht den Anspruch einer klassischen Briefedition, die in dem vorgegebenen Bearbeitungszeitraum nicht zu leisten gewesen wäre. Die Briefe sind lediglich diplomatisch übertragen und werden nicht von Kommentaren und erläuternden Informationen begleitet. Das Projekt trägt damit vielmehr der spezifischen Textsorte ›Brief‹ Rechnung. Dabei spielt die je eigene Materialität eine besondere Rolle. So beginnt die epistolare Botschaft bereits immer bei der Wahl des Papiers und seines Formats. Dieses reicht von der schlichten Korrespondenzkarte oder einer Randnotiz auf einem Zeitungsausschnitt bis hin zu mit Zierrändern versehenem und Monogrammen geprägtem Briefpapier. Die materielle Bedeutung eines Schreibens wird auch über die Wahl des Schreibgeräts deutlich, die Schrift und das Platzmanagement der Mitteilung. Selbst Art und Größe des Umschlags spielen hier eine Rolle. In den 1840er- und 50er-Jahren kommt es beispielsweise vor, dass Joachim einen Briefbogen doppelt beschreibt, zunächst mit schwarzer Tinte und dann erneut quer mit roter Tinte (Joa : B1 : 12). Gelegentlich nutzt er auch die Innenseite des Briefumschlags, um noch eine Nachricht in die Sendung aufzunehmen (Joa : B1 : 35). Auch die Qualität des Briefpapiers schwankt: von schlichtem Karopapier (Joa : B1 : 567) bis hin zu edlen Dienst-Papieren mit Prägungen und Adressdruck (Joa : B1 : 699).

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