Brahms gewidmet | Projektbericht

Bernhard Scholz: Klavierquartett e-Moll op. 47
Das Werk

Das Streichquintett op. 47 setzt sich bereits in seiner Auswahl von den übrigen Brahms gewidmeten Kammermusikwerken ab: Es ist die einzige Komposition, die sich nicht auf ein bereits vorliegendes Gegenstück im Œuvre des Adressaten beziehen kann. Denn Brahms’ eigene Streichquintette lagen erst 1882 (Streichquintett Nr. 1 F-Dur op. 88) bzw. 1892 im Erstdruck vor (Streichquintett Nr. 2 G-Dur op. 111). Für Scholz, der sich kompositorisch Brahms stets unterlegen fühlte, hatte dies den klaren Vorteil, dass etwaige Vorbilder nicht gleichsam als Folie über sein Widmungswerk gelegt und mit ihm abgeglichen werden konnten. Zu schnell waren Rezensenten bei vermeintlich erkannten Ähnlichkeiten sonst mit dem Vorwurf des Epigonentums zur Hand. Wie plausibel jedenfalls den Zeitgenossen Rückschlüsse vom Widmungsträger auf eventuelle Vorbilder des infrage stehenden Werkes erschienen, zeigt das Beispiel von Hermann Goetz, der die Widmung seines Klavierquartettes E-Dur op. 6 an Johannes Brahms eben gerade mit der Inspiration durch die analog besetzten Werke seines Adressaten begründet hatte. Ob Scholz sich dem direkten Vergleich bewusst entzogen hat, sei dahingestellt. Auf jeden Fall ist bemerkenswert, dass das Brahms gewidmete Quintett im Werkkatalog des Komponisten von zwei Streichquartetten eingerahmt wird – die doch als reinste Form der Kammermusik einen noch höheren kompositorischen Anspruch formuliert hätten und zur Dedikation an das »kammermusikalische Bollwerk« Brahms ohne Frage überaus geeignet gewesen wären. Beide Quartette tragen jedoch keinen Dedikationstext.

Die Wahl von Kammermusik zur Widmung ist freilich trotz dieser Einschränkung als kalkulierte Referenz an Brahms zu bewerten. Denn legitimiert durch sein berufliches Selbstverständnis als »Kapellmeister« pointierte Scholz in seinem autobiografischen Rückblick Verklungene Weisen die Oper als sein eigentliches kompositorisches Hauptbetätigungsfeld, immerhin neun Musiktheaterwerke hat er komponiert. Seine kammermusikalischen Werke kommen dagegen in der Schrift nur am Rande zur Sprache. Scholz stand dennoch in seiner musikästhetischen Ausrichtung an der Seite der sogenannten »Konservativen« um Brahms, hatte in Zusammenarbeit mit Joseph Joachim sogar das im Mai 1860 durch eine Indiskretion zu früh erschienene Manifest gegen die Neudeutschen in der Berliner Zeitung Echo zu verantworten. Die Widmung seines Streichquintetts kann demnach als musikästhetisches Bekenntnis eines überzeugten Brahminen und Konservativen gelesen werden – ein Bekenntnis, das er im Jahr 1897 in seiner Schrift Wohin treiben wir? noch einmal bekräftigen und wiederholen sollte. (siehe Scholz und Brahms und Kammermusik im Umkreis des Parteienstreits)

Dass als Widmungswerk nur »das beste, was ich bis jetzt an derartigem geschrieben habe« (28. Juni 1878, BW III, S. 218) in Frage kam, ist dagegen als Tribut an den Meisterkomponisten zu verstehen, ein Topos, der im Feld der Widmungen an Brahms immer wieder aufscheint: Gerade Komponisten, die sich ihrem Adressaten kompositorisch unterlegen fühlten, legten Wert auf den eigenständigen Wert ihrer Komposition. Diese sollte in ihrem kompositorischen Anspruch den Maßstäben von Brahms möglichst nahe kommen. Dementsprechend wurde das Streichquintett in der Rezeption zwar durchaus mit Brahms in Verbindung gebracht, dies jedoch nur mit Verweis auf allgemeine Züge: Scholz sei ein Komponist, »der befruchtet von den Ideen Schubert’s, Schumann’s und Brahms’ auch die Blüthen seiner Muse zu schönen lebensvollen Gebilden gezeitigt hat. B. Sch. ist Meister in der Behandlung des schwierigen Quartettstyls, nächst Kiel und Brahms dürfte es ihm keiner der Neueren darin gleichthun […]« (Der Klavier-Lehrer. Musik-paedagogische Zeitschrift 2/1 [1. Januar 1879], S. 7). Plagiative Tendenzen wurden dagegen nicht erkannt – und verboten sich in einem Werk, das auch kompositorischen Qualitätsnachweis und ästhetische Positionierung darstellen sollte, von selbst.

Trotz der Bemühung um Eigenständigkeit resümierte in der Rückschau Wilhelm Altmann in seinem einschlägigen Handbuch für Streichquartettspieler schließlich, das Quintett sei als »Werk eines Beethoven- und Brahms-Epigonen« einzuordnen. Ob die zitierte Einschätzung zutrifft, sei dahingestellt. Sicher ist freilich, dass Scholz sich gerade in der sehr traditionellen Formgebung an der kammermusikalischen Tradition und den Prinzipien der klassischen Kammermusikproduktion orientierte – und damit seine eigene Zugehörigkeit zu einer konservativ denkenden Schule manifestierte. Noch über zwanzig Jahre später, am 18. Februar 1899 schrieb er an Joseph Joachim: »Ich kann Dir gar nicht sagen, wie traurig, trostlos ich das moderne Treiben in unserer Kunst finde; ist das überhaupt noch Musik? Versteht denn diese ganze Generation noch unsere Meister?« (Bard 1913, S. 492). Seinen Ursprung hatte die sich in Brief und Quintett niederschlagende Denkweise in der Einschätzung der Zeitgenossen vor allem in seinem Unterricht bei Siegfried Dehn: Von ihm, so der Nekrolog in der Rheinischen, habe »Scholz seine Wertschätzung strenger Form und Polyphonie übernommen und als Gewinn ein zuverlässiges Können alles Handwerklichen.« All dies ist im Quintett klar erkennbar. Anklänge an die Musiksprache von Brahms ergeben sich darüber hinaus vor allem aus der konsequenten thematischen Arbeit, die sich unter anderem in der Verknüpfung und Rahmung des ersten und letzten Satzes zeigen: Die Tonrepetitionen und Liegetöne des zweiten Themas kehren im Hauptthema des letzten Satzes als konstituierendes Merkmal wieder.

Die thematische Arbeit und starke Neigung zu polyphonen Partien setzt sich klar von dem prominenten Referenzwerk, dem Streichquintett C-Dur D 956 von Franz Schubert ab, dem Scholz in der eher ungewöhnlichen Wahl seiner Besetzung folgt. Denn am üblichsten ist in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Rahmen eines Quintetts in der um 1780 begründeten Wiener Tradition die Hinzunahme einer zweiten Bratsche zur Verstärkung der Mittellage des traditionellen Streichquartettsatzes. Scholz entschied sich davon abweichend für die (seltenere) Besetzung mit zwei Celli – eine Variante, die heute zwar vor allem auf Luigi Boccherini zurückgeführt wird, im 19. Jahrhundert aber eher mit Franz Schubert verbunden wurde. Dieser war mit seinem im Todesjahr 1828 entstandenen, für Wien jedoch singulären und erst 1853 gedruckten Streichquintett C-Dur D 956 gleichsam zum Begründer eines neuen Gattungsstrangs geworden: »Die Verdopplung des letztern Instruments statt der bis dahin üblichen zwei Bratschen erhöht die Kraft und Fülle der Klangwirkung und theilt zugleich dem Colorit einen eigenthümlich romantischen Reiz mit.« (Gumprecht 1869, S. 40). Ob Scholz freilich wusste, dass auch Brahms 1862/63 ein Quintett mit zwei Celli konzipiert hatte, das später zum Klavierquartett op. 34 bzw. der Sonate für zwei Klaviere op. 34b umgearbeitet wurde, ist nicht klar. Möglich wäre es, standen beide doch während Brahms’ Hannover-Aufenthalt 1862 in recht engem Kontakt. Vielleicht geht die spezielle Instrumentenwahl jedoch auch auf die geplante Einreichung des Quintetts beim Kammermusikwettbewerb in St. Petersburg zurück: In Russland jedenfalls war die Verwendung zweier Celli in der Nachfolge der Werke des Franzosen George Onslow sehr viel typischer als im Gebiet der deutschsprachigen Länder (vgl. Finscher, MGG², Sp. 2003).

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