Brahms gewidmet | Projektbericht

Musikalischer Text oder musikologischer Kontext? Die Widmung zur Brahms-Zeit

Gehören im Erstdruck veröffentlichte Widmungen zum Text oder Kontext der Komposition, die sie bezeichnen? Eine allgemeingültige Antwort auf diese Frage zu finden, scheint schwierig. Zu unterschiedlich sind die Ausprägungen des Phänomens, das sich eher je nach Intention des Urhebers in einer Grauzone zwischen Text und Kontext bewegt. Doch eines scheint klar: Gerade in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sollte eine jede Zueignung in einem möglichst engen Zusammenhang mit dem Werktext, auf den sie sich bezieht, stehen: »[...] ich denke mir auch bei meinen Dedicationen etwas, die doch immer mit der Entstehung einen Zusammenhang haben soll[en]« bemerkte dementsprechend Robert Schumann gegenüber Clara Wieck (13. März 1839, BW II, S. 442). In der Tradition des Begründers der Paratext-Theorie, Gerard Genette, wird analog zu diesem Verständnis nicht nur die Widmung, sondern das ganze Titelblatt einer Veröffentlichung als »Schwelle« verstanden, die der Rezipient auf dem Weg zum Werktext durchschreitet. Die paratextuellen Elemente werden dann als relevante erste Zugriffspunkte auf den eigentlichen Werktext verstanden, sie weisen »in diesem Sinn über das bloß Textuelle hinaus auf die kommunikative Einbindung des Textes« (Dembeck 2007, S. 22) und sind demnach »zwar noch nicht der Text, aber bereits Text« (Genette 2001, S. 14).

Diese wissenschaftstheoretische Einschätzung äußert sich in der praktischen Umsetzung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf vielen Ebenen: Teils wurde z. B. die Widmung in Konzertprogrammen als Bestandteil der Titelinformation mitgeteilt oder in Rezensionen für die musikalische Analyse als Informationsträger herangezogen. Als ein Beispiel, in welcher Weise das »Portal Titelblatt« als Hinweis auf den Gehalt des Werktextes verstanden wurde, sei auf eine Rezension der Sinfonie F-Dur op. 9 von Hermann Goetz verwiesen (MWb 30/11 [9. März 1899], S. 160): »Die Bezeichnung ›Capellmeistermusik‹, welche sich das liebenswürdige, jugendfrische und tief gemüthvolle Werk nunmehr von verschiedenen Wiener Kritikern gefallen lassen musste (darunter auch von unserem altersschwachen, aber sich durchaus nicht zur Ruhe setzen wollenden quondam ›Ersten‹!), halte ich für entschieden ungerecht. Dagegen spricht ausser dem Charakter des Werkes selbst schon die von Goetz dem ›lieben Freunde Ernst Frank‹ vorangesetzte Widmung, sowie die Wahl des ebenfalls auf dem Titelblatt zu lesenden Schiller’schen Mottos: ›In des Herzens heilig stille Räume Musst du fliehen aus des Lebens Tanz.‹ Wenn sich ein musikalischer Gemüthsmensch von dem Talente des Componisten der ›Bezähmten Widerspänstigen‹ mit solchen dichterischen Absichten ans Arbeitspult begibt, kommt schwerlich eine rein conventionelle Capellmeistermusik heraus.«

Analog zu der Bedeutung, die die Rezipienten der Widmung zuerkannten, ist ihr symbolischer Wert zu verstehen. » [...] da in den meisten Fällen die Bücher und Notenhefte in Hunderten und Tausenden von Exemplaren in die Welt gehen, so wird auch der Name dessen, der neben dem Autor auf dem Titel verzeichnet ist, mit hinausgetragen in alle Welt, und wie wollte man den schelten, der sich dadurch geehrt fühlt!« resümierte Carl Reinecke (Reinecke 1902, S. 205), der Brahms 1898 im Andenken seine Sonate Nr. 3 G-Dur für Klavier und Violoncello op. 238 widmen sollte. Die Ehrerbietung an den Adressaten wird auch dadurch bekräftigt, dass symbolisch Rechte am Text an den Widmungsträger übergehen. Dieser steht mit seinem Namen für das ihm gewidmete Werk und seine Inhalte ein – dies hat auch Brahms verschiedentlich thematisiert.

Allerdings ist die hohe symbolische Wertigkeit der Dedikation eine recht neue Entwicklung des 19. Jahrhunderts. Als Konsequenz aus einer Zeit, in der das Musikleben meist von adligen Höfen getragen wurde, hatte sich zuvor die Widmung vermehrt als »Bettelbrief« dargestellt. Von adligen, wohlhabenden Widmungsadressaten versprach sich der Komponist als Kompensation der eigenen Mühe einen finanziellen oder anderweitigen Vorteil, um den Lebensunterhalt zu decken. Doch die soziologischen und gesellschaftlichen Brüche und Umschwünge, die das Jahrhundert prägen, wirkten sich auch an dieser Stelle aus – aus dem vielbeschworenen Aufstieg des Bürgertums, das zunehmend zur Trägerschicht des Musiklebens wird, entstand eine neue Form der Widmung, die verstärkt auf private Aspekte der Freundschaft oder des Dankes verweist. Widmungen in der Hoffnung auf materielle Entlohnung galten dagegen zunehmend als verpönt. So sehr, dass sich manch ein Komponist um die Mitte des Jahrhunderts zur Rechtfertigung seiner Adressatenwahl gezwungen sah: »Und habe ich je die Wurst nach der Speckseite geworfen und einem Gekrönten, oder Prinzen und Prinzessinnen von Geblüt etwas ›ehrfurchtsvoll zu Füßen gelegt‹?«, fragte Friedrich Hieronymus Truhn in einem Brief vom 10. April 1845 provokativ den Kritiker Hermann Hirschfeld (Repertorium für Musik 2/7–9 [1845], S. 113), der ihm in einer Rezension Opportunismus bei der Vergabe von Zueignungen vorgeworfen hatte.

Insgesamt herrschten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts demnach oftmals vordergründig selbstlose Widmungsgründe vor, die dennoch durchaus das Trachten nach einem eigenen Vorteil in sich bergen konnten. Eine recht große Rolle spielte gerade bei jungen, noch unbekannten Komponisten der mögliche Werbefaktor. Hatte nämlich ein berühmter Zeitgenosse nach Prüfung der Partitur die Widmung offiziell angenommen, so stellte dies auch einen Qualitätsnachweis für die Komposition dar. Verbunden wurden solche Überlegungen oftmals mit dem Aspekt des Danks, um der Widmung trotz allem einen privateren Charakter zu geben. So geht auffallend oft ein sehr frühes Opus an einen ehemaligen Lehrer – neben der dahinter verborgenen Höflichkeitsadresse konnte dies bei der Suche nach einem potenziellen Verleger behilflich sein. Auch Hermann Goetz und Bernhard Scholz reihen sich an dieser Stelle ein: Das Klaviertrio g-Moll op. 1 von Hermann Goetz ist an Hans von Bülow gerichtet, die Zwei Sonatinen op. 8 sind »Herrn Louis Köhler in Dankbarkeit zugeeignet«. Analog hat Bernhard Scholz die 6 Präludien und Fugen op. 1 »seinem verehrten Lehrer Herrn Professor S. W. Dehn in dankbarer Zueignung gewidmet«. Meist überschneiden sich demnach mehrere Widmungsgründe: Neben Dankbarkeit und Werbung spielte die Hoffnung auf Aufführungen durch den Adressaten und die musikästhetische Positionierung an der Seite berühmterer Zeitgenossen eine übergeordnete Rolle. Aber trotz allem sind auch in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts materielle Entlohnungen noch bekannt gewesen und sogar eine Meldung in der Zeitung wert: Robert Franz habe »für die Zueignung seines Op. 33, sechs Lieder von Goethe, von der Frau Prinzessin von Preußen eine kostbare Tuchnadel erhalten«, berichtete 1859 ein Rezensent (NZfM 50/17 [22. April 1859], S. 195).

Der neue, vermehrt bürgerliche Adressatenkreis führte freilich auch zu einer Anpassung der Widmungsgepflogenheiten. In der Zeit, in der die Widmung an Adlige einem Rechtsakt gleichkam, hatte sich ein komplexes Kommunikationsmodell herausgebildet. Es reichte von der Bitte um Widmungserlaubnis über die Übersendung des gedruckten Widmungswerks bis hin zur Dankadresse des Adressaten. Zunehmend wurde allerdings diskutiert, ob bei gleichem sozialem Status von Widmendem und Adressaten die Bitte um Widmungserlaubnis noch nötig sei. Die Unsicherheit führte zu teils skurrilen Situationen. Überspitzt wurde dies auch in der Presse thematisiert: »In Oestreich muß Jeder, der ein Werk Jemanden widmen will, dem Censor eine Bescheinigung von diesem bringen, daß er die Erlaubniß dazu giebt. Kürzlich dedicirte ein Musiker eine Sonate: ›Den Manen Beethovens.‹ Der Censor verlangte eine Bescheinigung. Die Sache wurde ruchbar und der Censor deßhalb von einem Vorgesetzten zur Rede gestellt: Schaun’s – entschuldigte er sich – i hab holter nit gelesen: Den Manen, i hob g’lesen: den Ahnen.« (Urania 3/1 [1846], S. 14) Tatsächlich war ein gewidmetes Opus in den Augen der Zeitgenossen so eng mit seinem Adressaten verbunden, dass eine vorherige Anfrage, ob die Dedikation willkommen sei, zumindest angemessen erschien, wie noch im Jahr 1900 ein Eintrag in Spemanns goldenem Buch der Musik beweist: Die vorherige Bitte um Widmungserlaubnis sei auch bei Privatleuten »ein ganz selbstverständliches Erfordernis«. Die neue, symbolisch-ideelle Rechteübertragung hatte in der Begründung die zuvor relevanten gesellschaftlichen Standesunterschiede ersetzt.

Auch die meisten der Komponisten, die Johannes Brahms ein Werk zueignen wollten, fragten vorher um Erlaubnis für den Abdruck des Widmungstextes. Meist antwortete Brahms zuvorkommend-positiv, wenn auch manches Mal gespickt mit hintergründiger Kritik. Nur zwei Fälle sind dagegen bekannt – u. a. vom Lübecker Komponisten Jakob Ludwig Bruhns – in denen Brahms die Anfrage ausschlug, beide Male spielten kompositionsästhetische Gründe eine Rolle. Brahms sah die Werke als zu stark den Idealen der Neudeutschen verpflichtet – ein Kompositionsstil, mit dem er seinen Namen offenkundig nicht verbunden wissen wollte. Insgesamt 96 Kompositionen können jedoch bis 1902, dem Jahr der Veröffentlichung der Choralvorspiele op. 122 posth. als letztem legitimiertem Werk, auf Brahms als ihren Widmungsadressaten verweisen. Dazu kommen acht weitere Werke von Bildenden Künstlern, Literaten und Wissenschaftlern. Brahms sah diese Dedikationen als große persönliche Ehre an – darauf weisen verschiedene Äußerungen, vor allem aber eine handschriftliche Widmungsliste hin, die Brahms bis zu seinem Tod führte. In sie trug er fast vollständig die ihm zugeeigneten Werke – vor allem Kompositionen – ein.

In einigen Aspekten bildet das Konvolut Spuren des Œuvres von Brahms nach – dies vor allem in seiner Gattungsverteilung. Gerade Kammermusik spielt naturgemäß eine große Rolle, analog zur Bedeutung für sein eigenes Schaffen und zu seiner Stellung als »kammermusikalisches Bollwerk« gegen die Partei der Zukunftsmusiker um Franz Liszt. 22 Kammermusikwerke werden Brahms im Lauf seines Lebens zugeeignet, die größte Gruppe stellen Streichquartette und Klaviertrios. Aber auch jede andere Besetzung, für die Brahms selber Werke geschaffen hat, ist vertreten. Einzige Ausnahme ist das Horntrio Es-Dur op. 40, das in seiner ungewöhnlichen Besetzung kein Pendant unter den gewidmeten Kompositionen findet. DasKlavierquartett op. 6 von Hermann Goetz und das Streichquintett op. 47 von Bernhard Scholz bilden im Zusammenspiel von Werk, Widmung und Person des Widmenden auf je eigene Art und Weise die Beschäftigung mit Brahms als Kammermusiker ab. Sie mögen als Beispiel dienen für die komplizierte Gemengelage der musikästhetisch, kompositorisch und freundschaftlich motivierten unterschiedlichsten Dedikationen.

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