Brahms gewidmet | Projektbericht

Hof, Bürgersalon oder Konzertbühne?

Es ist ein »paradoxe[r] Umschlag« (so Dahlhaus 1976, S. 54), der die Kammermusik im 19. Jahrhundert zunehmend aus dem Bereich des privaten Musizierens in die Öffentlichkeit drängt: Denn ursprünglich hing die kompositorische Komplexität der Werke eng mit der Exklusivität der aristokratischen Trägerschicht zusammen. Nun jedoch bedingte gerade die im Verlauf des Jahrhunderts zunehmende technische Schwierigkeit einhergehend mit dem vielfach beschworenen Aufstieg des Bürgertums eine Verlagerung der kammermusikalischen Aufführung in den öffentlichen Raum. Das öffentliche Konzert bot dem Berufsmusiker, der zunehmend allein den komplexen Anforderungen der Kompositionen gerecht werden konnte, deswegen im veränderten gesellschaftlichen Kontext neue Möglichkeiten zur Finanzierung seines Lebensunterhaltes. Die parallele Erhöhung der ästhetischen Bedeutung der Kammermusik als »absolute« (jedoch auch als kompliziert empfundene) Musik im Sinne Eduard Hanslicks trug weiter dazu bei, den Umschwung vom privaten oder fürstlichen Salon in die öffentliche Aufführung zu vollziehen – der bevorzugte Ort der Rezeption wurde neu definiert.

Die Auswirkungen dieser »Etablierung eines privaten und öffentlichen ›Konzertbetriebes‹« (Aschauer 2003, S. 26) betrafen grundlegend die Definition dessen, was zum Genre der Kammermusik dazugehöre. Ursprünglich war die Bezeichnung motiviert aus dem Ort der Aufführung – eben anfangs der fürstlichen Kammer, später einem mehr oder minder privaten Umfeld; Kammermusik stellte indes keineswegs eine Gattungsform dar. Parallel zu der definitorischen Verengung, die der Musik auf funktionaler Ebene ein hohes Sozialprestige zuwies, wurde die Kammermusik zugleich zu einem Sammelbecken für all jene Kompositionen, die den beiden übrigen Kategorien der Kirchen- und Theatermusik nicht zugewiesen werden konnten. Noch 1875 fasste das Conversations-Lexicon unter dem Stichpunkt »Kammerstyle« dementsprechend »Sinfonien und Concertouverturen, Instrumentalconcerte, Concertarien (Concertmusik); ferner Sonaten, sowie Duos, Trios (Terzette), Quartette u. s. w. bis hinauf zum Octett und Nonett für Instrumente und Stimmen, endlich Solos, Variationen, Nocturnes, Serenaden für Streich- oder für Blasinstrumente« zusammen. Diese Definition ist zu Teilen allerdings schon als anachronistisch zu werten. Denn zunehmend setzte sich gerade im Gebiet der seit 1871 im Deutschen Reich gefassten Staaten – erst später z. B. in Wien – eine Betrachtungsweise durch, die den rein funktional gefassten Begriff in seiner Gültigkeit auf das heutige Gattungsverständnis einschränkte: Mit der zunehmenden Loslösung des Konzertlebens vom Hof und der Etablierung neuer, primär (aber nicht nur) bürgerlich bestimmter Konzertformen lebte zwar der alte Begriff fort, wurde aber in neue Form gegossen. Dies auch aus pragmatischen Überlegungen der Verleger (Krones 2001, S. 129), die sich das neue Käuferfeld des Bildungsbürgertums erschlossen. Keinesfalls handelt es sich allerdings um einen zeitlich klar zu definierenden Umbruch. Vielmehr stellt der Begriff der Kammermusik noch im Kontext der Brahms-Zeit ein problematisches Feld dar, da sich alte und neue Bedeutungsvarianten überschnitten (vgl. grundlegend Krones 2001, S. 121–138). Die unterschiedlichen Lexikonartikel aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts belegen die im Wandel begriffene und zeitweise sehr uneinheitliche Sichtweise auf das Feld der Kammermusik: >>Musikalisches Conversations-Lexicon; >>Schuberth 1865

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