Brahms gewidmet | Projektbericht

Kammermusik im Kontext des »Parteienstreits«: Goetz und Scholz

Im historisch-ästhetischen »Parteienstreit« des 19. Jahrhunderts um die Ausrichtung der Musik der Zukunft galt Kammermusik bald als Domäne der sogenannten Konservativen. Um 1860, als Brahms die Bühne der Musikgeschichte betrat, hatten die Gattungen der Kammermusik im Gesamttableau der Musikproduktion an Bedeutung verloren. Aus der Perspektive der sinfonischen Dichtung und des Musikdramas schmähte Richard Wagner etwa den »heiligen Johannes« und seine »Enthaltsamkeitskirche«, in der lediglich Kammermusik erklinge (Wagner 1869, S. 392). Die ästhetische Abwertung der Kammermusik aus der Perspektive der ›Neudeutschen‹ bestätigt etwa die Erinnerung des neudeutsch orientierten Rudolf Louis:

»›Ich selbst erinnere mich,‹ so erzählt er, ›wie wir als angehende Musikbeflissene Ende der achtziger Jahre uns in einer gewissen Nobile sprezzatura aller Kammermusik gefielen, die wir – mit der einzigen großen Ausnahme der letzten Quartette Beethovens – auch in ihren Meisterwerken (deren Schönheiten wir uns darum keineswegs verschlossen) als eine mindere Gattung ansahen. ›Kammermusik verdirbt den Charakter‹ –, so ging damals unter uns die Rede‹« (überliefert bei Kahl 1928, S. 430).

Umgekehrt bedeutet dies, dass die Kammermusik zum Instrument der bewussten Abgrenzung der Konservativen gegenüber den Vertretern der ›Neudeutschen‹ wurde. Gerade Johannes Brahms wurde im Streit um die Ausrichtung der Musik ›nach Beethoven‹ schnell als kammermusikalische Identifikationsfigur gegenüber den ›Neudeutschen‹ positioniert. Dies wurde auch in zeitgenössischen Rezensionen seiner Werke pointiert, so z. B. durch Hermann Deiters in Bezug auf die drei Streichquartette op. 51/1+2 sowie op. 67 (AmZ 13/30 [24. Juli 1878], Sp. 472):

»Für uns ist es wesentlich, wiederum zu constatiren, wie mit Selbständigkeit und Schönheit der Erfindung, mit Reichthum und Kunst der Gestaltung, mit tiefster Empfindung und sprechendstem Ausdruck im Einzelnen sich jener mit Worten nicht recht erreichbare poetische Hauch, der uns in der ganzen Entwicklung ein Seelengemälde von eindrucksvoller Wahrheit erkennen lässt, verbindet, jene schöpferische Kraft, die den Tondichter macht, und die uns in Brahms immer wieder den erkennen lässt, der, was auch die Zukunftsmusiker sagen mögen, am entschiedensten unter den lebenden Componisten in den Fusstapfen Beethoven’s und der grossen Meister der Vergangenheit wandelt.«

Vor diesem musikpolitischen Hintergrund bedeutete die Widmung eines kammermusikalischen Werkes an Johannes Brahms eine ästhetische Positionierung. Gerade Bernhard Scholz hat sich in seinem musikästhetischen Selbstempfinden immer wieder unmissverständlich an die Seite von Brahms gestellt. Schon früh hatte er dies durch die Mitkonzeption und Unterzeichnung des Manifests gegen die Neudeutschen unterstrichen – und seine Einstellung sollte sich bis zu seinem Tod nicht grundlegend ändern, obwohl er in seiner Eigenschaft als Kapellmeister in Breslau durchaus auch Werke der als neudeutsch apostrophierten Komponisten, besonders Richard Wagner, aufführte. Gleichzeitig verfolgte er jedoch stets die Interessen seines Freundes Brahms und versuchte, dessen Werke an seinen Wirkungsorten vermehrt bekannt zu machen. Er betonte dementsprechend, dass Richard Wagner und Johannes Brahms unter den zeitgenössischen Komponisten die größte Rolle in seinen Konzerten gespielt hätten (Scholz 1911, S. 264). Als Direktor des Hoch’schen Konservatoriums in Frankfurt galt er schließlich als so konservativ, dass aus Protest gegen seine Berufung eine zweite Hochschule – das nach dem verstorbenen Vorgänger von Scholz benannte Raff-Konservatorium – gegründet wurde. Kurz vor dem Tod von Brahms unterstrich er mit der Schrift Wohin treiben wir? (Februar 1897) noch einmal seine Verbundenheit mit den Kerngedanken des Manifests aus den 1860er Jahren: Als Fazit aus der Kritik am theoretischen Konzept Wagners (dessen Musik jedoch – ganz in der Tradition von Brahms – durchaus sehr positive Aspekte zugesprochen werden) und harschen Worten gegenüber der Tonsprache von Berlioz und Liszt wird Brahms schließlich als der einzige Künstler positioniert, der als uneingeschränktes Vorbild einer neuen Generation dienen könne:

»Ich wende mich ab; da gewahre ich einen Künstler, der auf dem Wege, welchen uns die großen Meister gewiesen haben, ruhig weiter schreitend, still vor sich hinsingt und in die Saiten greift. Seines Gottes voll, achtet er nicht darauf, ob ihm jemand folgt. Da bleibt erst einer stehen und lauscht; ein zweiter schließt sich an, und – siehe da die Gefolgschaft wächst; denn wie die Weisen des Sängers Johannes Brahms von Herzen kommen, so rühren sie die Herzen. Gar manche Saite der Leier hat er zum Erklingen gebracht, an die vor ihm noch keiner gerührt hatte. Aller äußerlichen Musikmacherei abhold, kündet er in der heiligen Sprache der Töne alles, was die Menschen im Innersten bewegt, Erinnerung an die selige Kinderzeit, Liebesglück und Liebesschmerz, stolzen Lebensmuth und Trost in Trauer. Möge er vielen ein Führer und Vorbild werden!«

Diese Haltung wurde auch nach Scholz’ Tod mit seiner Person verbunden. Ein Nekrolog auf Scholz in der NZfM resümierte schließlich:

»[E]r war eine kernhafte und aufrichtige Natur. So aufrichtig, daß er auch künstlerisch nur seinem eigenen Triebe und nicht der Mode folgte. Es war ihm heiliger Ernst mit seinem Widerwillen gegen die moderne Musik.« (NZfM 84/2 [11. Januar 1917], S. 9)

Hermann Goetz ist im Koordinatensystem des Parteienstreits weniger leicht einzuordnen als Bernhard Scholz. Doch trotz seiner Ausbildung beim durchaus fortschrittlich eingestellten Louis Köhler und einer sehr reflektierten Beurteilung der Werke ›Neudeutscher‹ galt seine Ausrichtung unter den Zeitgenossen als tendenziell den Konservativen zugeneigt. Sein ehemaliger Lehrer Hans von Bülow unterstrich diese Einschätzung jedenfalls früh in einem Empfehlungsschreiben an Joachim Raff: Goetz sei ein »talentvolle[r] Mensch, der unter besagter Clique [den ›Neudeutschen‹] kaum aufkommen kann« (Bülow 1900, S. 161). Die Schwierigkeiten, sich kompositorisch auf dem hart umkämpften Musikmarkt durchzusetzen, wurden also über die ästhetische Positionierung durchaus zur Einforderung von Hilfe eingesetzt. Tatsächlich ist die Grundhaltung von Goetz geprägt gewesen von der Prämisse, dass ›absolute Musik‹ im Sinn von Johannes Brahms den höchsten Eigenwert besitze: »Unter den einzelnen Tonstücken der Gattung werden zweifellos diejenigen am höchsten stehen, welche auch ohne das Gerüst der beigefügten poetischen Erklärung den Hörer von selbst und in stets wohltuender und vermittelnder Art durch die vom Komponisten gewünschten Reihen von Empfindungen und Stimmungen führt.« (zit. n. Kreuzhage 1916, S. 83). Und diese Einschätzung unterstrich er auch in der Widmungsanfrage an Brahms:

»Die Zeit und das Kunstleben, in dem wir uns gegenwärtig befinden, hat für diejenigen, die es ernst und heilig meinen mit ihrer Kunst, wenig Erbauliches und Anmutendes. Es ist die Zeit des Virtuosentums und der Parteiungen. Sie wissen ja, wie klein die Zahl derjenigen ist, die, auf der vollen Höhe virtuosen Könnens stehend, ihre ganze Kraft nur der Verbreitung echter und wahrer Kunst geweiht haben. Was bei der großen Zahl der übrigen mit unterlaufen muss, von deren ›kolossalen Erfolgen‹ die musikalischen Zeitungen angefüllt sind – über diese Misère brauche ich wohl keine Worte zu verlieren... Unter solchen Wirrsalen und Verirrungen ist es erquickend, wenigstens einen Künstler zu sehen, der ohne Rücksicht auf den augenblicklichen Beifall der Menge unbeirrt den Weg geht, den ihm seine eigentümlichen Anlagen und die reinste Kunstbegeisterung vorzeichnen...«

^